GRIP & Dance on Ensemble aus Belgien fesselte im Leipziger Schauspielhaus.
Anhaltender Beifall zur Eröffnung der 32. Leipziger euro-scene am Dienstagabend, (8.11.) im Schauspielhaus. Der Jubel galt dem Gastspiel von GRIP & Dance on Ensemble, der nicht erst seit kurzem medial häufig beachteten Truppe des belgischen Choreographen Jan Martens.
Von Moritz Jähnig
Das Tanzstück trägt den gar garstig sperrigen Titel „Any attempt will end in chrushed bodies and shattered bones“, was mit „Jeder Versuch wird mit zerquetschten Körpern und geborstenen Knochen enden“ übersetzbar ist. Laut Programmheft ein originales Stück politischer Kommunikation der chinesischen Regierung. Auch braucht man nicht zwingend schon vor Vorstellungsbeginn die deutsche Übersetzung der Textauszüge aus SPRING von Ali Smith (2021) gelesen zu haben, die später im Stück aufgerufen werden. Sie sind auf provozierende Weise nicht jugendfrei und bedrohlich.
Spätestens nach 15 Minuten ist jedem im Publikum klar, dass die Aussage, diese euro-scene 2022 werde politischer sein als alle ihre – auch nicht gerade lauen gebliebenen – Vorläuferinnen, keine Übertreibung zu sein scheint.
Das Stück verhandelt die Themen Gewalt und politische Repression. Es zeigt persönliches Erwachen, Auflehnung, Demonstration, Individualität, die von brutaler Unterdrückung und Gleichschaltung bedroht wird. Vom ersten Moment an hängt ein atmosphärischer Druck über der Szene, unter dem die Knochen knacken.
In einem total grauen Bühnenraum zelebrieren die Einzelnen bei grellem Licht und zu überlauter Musik manchmal kraftvoll exakt, manchmal zierlich verspielt minimale Körperbewegungen. Sie beherrschen ihr Vor-Sich-Hintun absolut perfekt. Jeder Mensch ein Meister, der mit seinem individuellen Können im Raum frei besteht. Nur ganz wenige gemeinsame Aktionen. Dennoch bewegen sich alle im Einklang.
Schnitt. Keine Musik. Absolute Stille. Die Tänzer marschieren festen Tritts, formieren sich, unsichtbaren Regeln folgend, in Kolonnen und Kreisen. Man denkt an Paraden, Trooping the Colour und Großer Zapfenstreich. Jeder kennt die hohe Symbolik solche Bilder. Die 17 Tänzerinnen und Tänzer entfalten in diesen Passagen eine Intensität, die das Atmen erschwert und keinen Muckser im Publikum zulässt.
In einem dritten Teil schallt wieder die überlaute Musik auf, eine Komposition Hendryk Corecki „Conzerto pour Clavecinet Cordes“. Aber plötzlich unterbrechen die bis dato einzeln Agierenden ihren gewohnten Trott und verändern sich. Sie helfen sich gegenseitig in neue Rollen und finden tänzerisch zu einen neuen synchronisierten Gemeinschaftszustand. Erwähnenswert sind nicht erst hier die individuellen Kostüme von Cédric Charlier.
Obwohl Einzelaktionen zu beobachten sind, ist Jan Martens Choreographie ein reines Ensemblestück, das formal eine Handlung in einzelnen Bildern erzählt. Die Handlung läuft nicht äußerlich als Weg von A nach B ab, sondern als innerer Prozess, in dem sich ein bedrückendes gesellschaftliches Klima manifestiert.
Die große Kunst der Truppe besteht – natürlich neben vielen anderen hier nicht erwähnten Vorzügen – darin, dem Zuschauer in seinem mehr oder weniger weichen Theatersessel das Bedrückende körperlich fühlbar gemacht zu haben.
Vielen Dank für das packende Gastspiel.
Hinweise
Zum Ensemble: www.grip.house
Zum Programm: www.euro-scene.de
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig
Fotos (3): © Phile Deprez
besuchte Vorstellung 08.11.2022; veröffentlicht 09.11.2022
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