„Bullets Over Broadway“ an der Musikalischen Komödie Leipzig
Wie gut, dass man bei diesem Tempo, diesem Witz und diesen Sounds nicht oft zum Nachdenken über Benutzungsstrukturen und Abhängigkeiten am Theater kommt. Die deutschsprachige Erstaufführung von „Bullets Over Broadway“ nach Woody Allen wurde in der Inszenierung von Chefregisseur Cusch Jung zu einem triumphalen Erfolg. Ensemble, Ballett, Chor, Orchester der Musikalischen Komödie und viele Gäste stürzten sich mit Begeisterung auf die Gags und eindeutigen Anzüglichkeiten aus dem Drehbuch von Woody Allen und Douglas McGrath. Die Übersetzung von Iris Schumacher und Frank Thannhäuser ist ein Triumph brillanter Pointen. Anders als der viel Tempo und etwas Nostalgie verblendende Film von 1994 gerät die Leipziger Produktion des Jukebox-Musicals zu einer Bombe aus ungebrochener Vitalität und Spiellust. Glen Kelly plünderte die musikalische Schatztruhe des Broadway.
von Roland H Dippel
„Ich habe mich prostituiert.“ bekennt der seiner Diva Helen Sinclair mit Texten und Sinnen willfährige David Shayne im Probentrubel. Der Zufall – genauer: ein äußerst fragwürdiger Zufall – hat den bislang wenig erfolgreichen Dramatiker mit einem chancenreichen Job beglückt. Aber die wenigen auf den Proben vernehmbaren Sätze lassen schon ahnen, dass mit Davids Bühnenprosa weitaus weniger los ist als mit seinem Regietalent. Während der Voraufführungsserie und bis zur Broadway-Premiere nimmt das als Karrierestart für die Geldgeber-Geliebte Olive gedachte Drama eine unerwartete Wende. Cheech, seines Zeichens der Aufpasser Olives, dass diese auf den Proben keine erotischen Dinger dreht, schreibt dem abgehobenen David die Dialoge in gute Bühnen-Sprache um. Damit beschert er, der heimliche Koautor, dem Stück die begeisternde Broadway-Premiere. Bis zu dieser knistert und funkt es zwischen den Darstellenden auch in einer rasanten Folge von Hits und Evergreens aus den glorreichen Broadway-Jahren vor 1940. Jede Nummer ist ein zweideutige Knaller. Und fast jede Nummer wird zur deutlichen Aufforderung: Sei still, sei unanständig, sei wild! Kaum zu glauben, dass die Vereinigten Staaten jemals als prüde bezeichnet wurden.
Drei Stunden wird die Welt von Starlets, Halbganoven und Idealisten zur Bühne. Das ausgezeichnete Ballett bebildert und betanzt sogar noch Menütipps wie Hotdog in Sandwich oder Bananen zum Hundekuchen – alles werktreu. Und Natalie Holtom kreierte dazu neben der Choreographie mindestens so viele Hüftschwünge wie Frauen in der Besetzung sind.
Bei der Ausstattung gibt man sich zufrieden mit ein paar gemalten Prospekten und für die Spielszenen, offenbar ein Scheidungsdramolett, mit gut markierter Probendekoration. Mehr lässt es Karel Spanhak bei den Kostümen krachen: Charleston-Kleider für die Starlets, messerscharfe Bügelfalten für die Poker-Asse. Beim sein Lampenfieber mit Kalorien betäubenden Schauspieler Warner Purcell (Michael Raschle) gerät es zur Meisterleistung, wie dessen Bauchumfang mit jedem Auftritt wächst. Raschle kommt erst als dynamischer Best Ager ins Bild und spielt seine mit jedem Auftritt wachsende Leibesfülle erst mit drahtigen, dann wiegenden Schritten aus. Kräftige Pointen und filigranes Spiel ergänzen sich. Ein Kabinettstückchen auch, wie Olive (Jasmin Eberl) auf der Couch ihre Beine wie Fangarme um den (noch) schüchternen Autor kreisen lässt. Die Dialoge klingen in der deutschen Fassung von Iris Schumacher und Frank Thannhäuser direkt und deftig, also goldrichtig. Blass bleibt in dieser mafiös durchseuchten Broadway-Hymne nur der Autor und Mittelpunkt. Dessen Darsteller Benjamin Sommerfeld ist sympathisch, adrett, blond und hochgewachsen, seine Schüchternheit deshalb eine andere als die trotz Brille die Welt nicht besser verstehenden John Cushak im Film von 1994. Allein schon, weil seine beiden Geliebten in der MuKo zu David hinaufblicken, während es im Film oft so wirkt, als ob David seine Augen hochhebt zum Broadway und dessen Sternen.
Nora Lentner hat als Davids Freundin Ellen diesmal eine recht hausbackene Rolle, obwohl sogar sie kurzfristig einen entschlossenen Ausbruchversuch zu aufregenden Liebesspielen unternimmt und doch wieder in die ruhigeren Beziehungsfahrwasser mit David zurückkommt. Damit sticht sie den Star Helen Sinclair aus, ohne erst die unbezwingbaren Waffen einer Frau nützen zu müssen. Helen läuft in Privatbeziehungen zu noch mehr Charisma auf als auf der Bühne: Alkoholikerin, Ehebrecherin, Nymphomanin, Kleptomanin – trotzdem ist sie zum Schluss weder am Boden noch im Entzug oder tot. Franziska Becker wendet ihre Figur ins sanft Elegische und Exaltierte, was sich äußerst gut macht. Dagegen übergießt Jasmin Eberl die mitunter vokabelschwache Sexpuppe Olive mit schon emanzipatorischer Widerborstigkeit. Chefregisseur Cusch Jung reservierte neben der Regie für sich selbstironisch die Rolle des Förderers der attraktiven Künste, der seine Geliebte mittels viel Kohle in das Theater auf dem Theater hinein bugsiert. Seine Inszenierung geriet hinreichend glaubwürdig – die Balance stimmte demzufolge.
Karrieristische Zielstrebigkeit und Hormonexplosionen sind annähernd gleichgewichtig auf zwei Geschlechter verteilt. Es gibt viel über Mordgedanken und intime Druckmomente zu lachen. Wenn jemand dieses Stück nach repressiven Frauenklischees abklopfen sollte: Ja – hier sind quotengerecht auch Frauen triebgesteuerte Wesen und werden zum Teil in patriarchale Klischees geklemmt. Aber Woody Allen watschte sie nicht mit der poetischen Scheingerechtigkeit trendgerechter Autor:innen ab. Dafür lässt Allen sie nach dem Doppelsündenfall der Morde lustvoll und mit einem temporär gebrochenen Herzen weiterleben – mit Ausnahme von Olive und ihrem Mörder Cheech (Justus Seeger, diesmal recht hart). Insofern – wer hätte das gedacht? – ist das 2014 am Broadway uraufgeführte Musical durchaus ein Beitrag zu den derzeitigen Diskursen.
Es wurde ein großartiger Musical-Abend. Das Publikum der dritten Vorstellung zeigte wenig Neigung zum Lachen. Dafür brachte es beim Schlussbeifall eine für diese Leistung angemessene Lautstärke auf. Allmählich beherrscht man an der MuKo die neuen Möglichkeiten im sanierten Zuschauerraum. Orchester, Chor und Sounddesign klingen bestechend gut. Tobias Engeli und das Orchester machten nachdrücklich auf ihre vielen Talente aufmerksam. In der Musik vibrierte eine für pandemische Zeiten fast unverschämte Körperlichkeit. „Bullets Over Broadway“ ist mehr als eine weitere Komödie über Theater auf dem Theater. Weil es nicht nur in den Bühnenszenen um die richtige Tour geht, wer wen zu irgendwas rumkriegt und manipuliert. Das konnte man sehen und hören.
ANNOTATION
“Bullets over Broadway – Das Musical” von Wood Allen nach dem Drehbuch zum Film »Bullets Over Broadway« von Woody Allen und Douglas McGrath. Deutsche Fassung von Iris Schumacher und Frank Thannhäuser. Deutschsprachige Erstaufführung. Musikalische Komödie Leipzig
Musikalische Leitung Christoph-Johannes Eichhorn, Regie Cusch Jung, Choreografie Natalie Holtom, Bühne, Kostüm Karel Spanhak, Choreinstudierung Mathias Drechsler, Dramaturgie Elisabeth Kühne, Chor, Extrachor, Ballett und Orchester der Musikalischen Komödie
Mitwirkende
Helen Sinclair, Franziska Becker|Olive Neal, Jasmin Eberl |Ellen, Nora Lentner | Eden Brent, Melissa Jung|Lorna Jana-Maria Eberhardt|Kay, Dagmar Zeromska|David Shayne, Benjamin Sommerfeld|Cheech, Justus Seeger|Nick Valenti, Cusch Jung|Warner Purcell, Michael Raschle|Julian Marx Hans-Georg Pachmann|Aldo Stefan Dittko|Rocco Björn Grandt|Sheldon Flender, Peter Waelsch|Hotdog-Verkäufer, Tobias Latte|Mitch, Stephen Budd
CREDITS
Premiere 12.02.2022, besuchte Vorstellung 15.02.2022, veröffentlicht 16.02.2022
Text: Roland Dippel, freier Musik- und Theaterkritiker, Leipzig
Fotos (2): © Tom Schulze
Bild oben: Szene mit Jasmin Eberl, Olive, Benjamin Sommerfeld (r.) als David und Hans-Georg Pachmann (li) als Julian; Bild Mitte: Ballett der Musikalischen Komödie