„Die Rättin“ als beeindruckendes Schaustück ohne dramatische Regeln
„Kein von den Göttern oder dem einen Gott verhängtes Strafgereicht droht uns – es sind die Menschen selbst, die durch ihr Verhalten eine mögliche Vernichtung riskieren.“ Günter Grass schrieb seinen apokalyptischen Roman „Die Rättin“ (1986) in Unkenntnis gegenwärtiger Klimabewegungen und -kompromisse, gar noch vor dem GAU in Tschernobyls Atomreaktor. Jetzt sieht man auf Leipzigs Großer Schauhausbühne eine Theaterfassung der stattgehabten Weltuntergangsgeschichte, zu der die Ratten Ultemosch sagen – Theater wie es sein kann: Bildgewaltig. Philosophisch. Diskussionswürdig.
Der Premierentermin am 8. Oktober war der Nobelpreiswoche angemessen: Denn „viele Menschen, Ärzte und Wissenschaftler voran, müssten ausführlich nach Stockholm schreiben und alle Verdienste der Ratten auflisten, damit die Herren dort endlich begreifen wie armselig die Humanmedizin und die Biochemie und die Grundlagenforschung und was noch alles ohne das Rattengeschlecht aussähe. Deine Chancen, Rättin, stehen nicht schlecht.“ Auch im Jahre 2021 hat keine Rättin den Nobelpreis erhalten. Doch Literaturnobelpreisträger Günter Grass (1999) hatte bereits vor 35 Jahren des Tieres Potenz als Überlebenskünstlerin in der medizinischen Forschung erkannt und sie zur Titelfigur eines dystopischen Textes gemacht. Im Konvolut treten neben dieser Hauptfigur Hauptfiguren andrer Grasscher Werke auf, es vermischen sich die Ebenen, Genres und die Themen. Von deren Vielzahl haben Claudia Bauer und Matthias Döpke einiges gestrichen, anderes hinzugefügt, so dass ein Kommentar zur Zeit entsteht. Den stellt Regisseurin Claudia Bauer farben-, tempo- und abwechslungsreich sehr kunstvoll auf die große Schauhaus-Bühne.
Dreh- und Angelpunkt solcher Art Tour de Force ist der namenlose Mann, der vielleicht der letzte Bewohner unserer Erde ist. In und außerhalb seines Raumschiffs, Labors oder der Computerbude (Bühne: Andreas Auerbach) rennt er um sein Leben und spricht mit einem Rättinnenchor wie im antiken Drama über die Zukunft. (So hebt der Kritiker aus dem beeindruckenden Darstellerensemble nur Tilo Krügel hervor, der in den pausenlos 130 Minuten mehr als seine Person einbringt.) Dieser Mann begegnet auf seinen Joggingpisten auch den Grimmschen Märchenfiguren von dem bösen Wolf, einer Hexe und dem zaghaften Prinzen, die allesamt wie realiter die norwegische Gretl den freitäglichen Aufstand proben: Erfolg ungewiss. Dazwischen Urgroßmutter, Oskar Matzerath, Baumstämme und ein Mann am Klavier: Hubert Wild. Dessen Klangteppich lässt das Schauspiel oft in Opernnähe geraten – wahrlich ein Theaterereignis. Und es hallen seine letzten Sätze nach wie das Perpendikel der alten Standuhr: „Noch existieren wir. Noch sind wir viele.“
Nein, hier ist nichts zu kritikastern, außer dass „Die Rättin“ auch in einer hiesigen Spielabfolge steht, die schwer leserliche Prosa auf Theaterbretter hievt. Das muss nicht scheitern, beweist der Abend, aber eine nachvollziehbare Handlung bietet die Inszenierung nicht. Dabei vermittelt der Deutschunterricht wie ehedem: Literarische Gattungen sind Epik, Lyrik und Dramatik. Wobei die Bühnenwerke ein wiedererkennbarer Aufbau auszeichnet: Exposition, Komplikation, Peripetie, Retardation hinein die unabwendbare Katastrophe. Epischen Texten (zumal der „Rättin“) ist dagegen eine andere Dramaturgie eigen, deren Form, Themenvielfalt und fortschreitender logischer Aufbau Raum für Assoziationen schafft. Die Transponierung der Epik auf Theaterbühnen ist ohne Verluste nicht zu machen, deswegen verwundert die Entscheidung von Theaterintendanten deutschlandweit, es immer wieder zu versuchen. So stellt sich die Frage: Haben wir keine aufführbaren Theatertexte? Gibt es keine Bühnenautoren? Die Gegenwart ist doch dramatischer denn je.
Henner Kotte
ANNOTATION
„Die Rättin“ nach dem Roman von Günter Grass für die Bühne bearbeitet von Claudia Bauer und Matthias Döpke
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach,Kostüme: Vanessa Rust, Musik: Hubert Wild, Dramaturgie: Matthias Döpke, Licht: Veit-Rüdiger Griess, Theaterpädagische Betreuung: Amelie Gohla
Besetzung: Tilo Krügel als Mann, Julia Berke als Rättin / Damroka, Patrick Isermeyer als Rättin / Maschinistin, Amal Keller als Rättin / Alte, Julia Preuß als Rättin / Meereskundlerin, Teresa Schergaut als Rättin / Steuermännin, Roman Kanonik als Oskar Matzerath, Hubert Wild als Rättin / Anna Koljaiczek, Adrian Djokic als Hänsel, Paula Vogel als Gretel, Laura Storz als Hexe, Ronja Oehler als Dornröschen, Matthis Heinrich als Prinz, Leonard Meschter als Rübezahl, Ellen Neuser als Das Mädchen mit den abgeschlagenen Händen, Ronja Rath als Rotkäppchen, Leonard Wilhelm als Wolf
Weitere Vorstellungen:
14.11., 18.12.2021, 19.30 Uhr, Schauspiel Leipzig Große Bühne
CREDITS
Foto: © Rolf Arnold
Premiere: 8.10.2021
Veröffentlicht: 2.11.2021