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Notwendig, brav, bewegend

Notwendig, brav, bewegend

„Kuss der Spinnenfrau“ an der MuKo Leipzig.

Ohrenbetäubende Standing Ovations am Ende, aber oft lastendes Schweigen während der Premiere. „Kuss der Spinnenfrau“ von John Kander, Fred Ebb und Terrence McNally erlebte im MuKo-Domizil Westbad seine Leipziger Erstaufführung: 43 Jahre nach der Erstausgabe des für lateinamerikanische Länder epochalen Romans von Manuel Puig (1976) und der fast überall gespielten Bühnenfassung, 35 Jahre nach dem Film von Héctor Babenco (1985), nach dem William Hurt für die Rolle des Molina den ersten Oscar für eine schwule Filmrolle erhielt, und fast 28 Jahre nach Uraufführung der Musical-Adaption in Toronto (1992). Seitdem hat sich in der Wahrnehmung von Lebensformen einiges geändert. Wie reflektiert man das an einem der beiden einzigen Repertoire-Theater für Operette und Musical Deutschlands?

von Roland H Dippel

Glamour im Elend, Poesie gegen Verzweiflung und die Macht der Phantasie als Antidepressivum unter Feinden. Die harten Szenen in einem lateinamerikanischen Gefängnis mit Folter, Bespitzelung und dem weiten Weg zweier Inhaftierter zu Vertrauen und einem intimen Miteinander wechseln mit glamourösen Showszenen, in denen die vom schwulen Schaufensterdekorateur Molina dem Konterrevolutionär Valentin erzählten Filmstorys zur Bühnenrealität werden. Diese subtile Balance von „Kuss der Spinnenfrau“ birgt Risiken.

Die Handlung aus Puigs Roman ist bekannt: Valentin und Molina teilen die Gefängniszelle – ersterer unwillig und aggressiv, zweiter mit der Resignation eines, der außer seiner Mutter (bewegend: Angela Mehling) und einer unerfüllbaren Fernliebe zu dem Kellner Gabriel (angemessen schemenhaft: Andreas Rainer) nichts zu verlieren hat. Beider Solidarität füreinander wächst, obwohl der vom Gefängnisaufseher unter Druck gesetzte Molina Valentin ausspionieren soll. Das wachsende Vertrauen beider zueinander steigert sich zur intimen Vereinigung. Molina, der nach seiner Freilassung für Valentin einen politisch motivierten Anruf tätigt, wird erschossen. Molina stirbt in Valentins Armen wie die Diva eines Filmmelodrams.

Dieses Musical ist für viele Staaten heute von gleicher Brisanz wie Kanders und Ebbs früherer Erfolg „Cabaret“ für Deutschland. Deshalb kommt die Leipziger „Spinnenfrau“-Erstaufführung nicht zu spät: Definitiv Genre-Neuland für die Musikalische Komödie, die sich unter Berücksichtigung vermeintlicher Publikumsvorlieben vor manchen Themen und Sujets bisher drückte. Hier also die ambivalente Beziehung zweier Männer statt heteronormativer Seitensprünge unter Champagner-Einfluss, Stahlgitter und Gefängniszelle statt Kristallkelche und Boudoir. Frank Schmutzler hatte Freude daran – endlich durfte es auf der Bühne mal dirty sein statt picobello: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – und Durchfall hat… Wenn die zweiflügelige Gefängniszelle nach hinten wegklappt, ist der Blick frei für die in vielerlei Diven-Gestalt herabschwebende Anke Fiedler als Aurora und letztlich jeden Mann mit einem tödlichen Kuss verzehrende Spinnenfrau. Sie schiebt sich im zweiten Teil auch in die direkten Träume Molinas. In Anke Fiedlers fantasievollen und glamourösen Roben sieht Aleksandra Kica ihre Hauptaufgabe, die Ensembles bleiben gefällig.

Symptomatisch für die Inszenierung: Anke Fiedler steht in der Traditionslinie der hellstimmigen Kindfrau. Nichts von bipolarer Phantastik oder Soul-Tiefen. Behauptung bleiben auch die vom Ballett und Ensemble mit perfekter Haltung ausgefüllten Szenen. Vor allem der Tango besitzt Flair. Auf der Strecke bleibt die Ebene, wie die Filmszenen in Molinas Kopf wachsen und sich wandeln, wie Aurora und Spinnenfrau in jeder Sekunde Todesbotin und Hoffnung sind. Auch Melissa Kings Choreographie traut sich nicht so recht heraus aus der Revue-Komfortzone, was auch am geringen Flächenvolumen der Ersatzspielstätte liegt. Nora Lentner, hier kurzgehalten in der Episodenfigur von Valentins Schwarm Marta, hätte Hintergründiges gewiss intensiver ins Spiel gebracht.

Testosteron contra Cashmere: Puig setzte neben seine Romanhandlung einen umfangreichen Anmerkungsapparat zur Historie von Homosexualität und Verfolgung: Valentin, der Prototyp toxischer Männlichkeit aus einfachen Verhältnissen, schaut bei einer Frau als letztes darauf, wie sie isst, und er hat klare Vorstellungen von der Revolution. Der Schaufensterdekorateur Valentin dagegen hat Sinn für das Schöne und sucht aktiv nach Emotionen.

Puig, Kander, Ebb, McNally plädoyieren für die Emanzipation von Schwulen, Tunten, Transen, aber für nicht für deren soziale Einebnung unter Preisgabe ihrer Individualität. Im Westwerk wird die Polarität zwischen Macho und Tunte gemildert, vor Hinterfragung scheute man sich. Deshalb wirkt Valentins Machismo vom gertenschlanken Friedrich Rau wie die Pose eines schlaksigen Twens auf dem Weg ins Seminar. Deshalb gehen die tuckigen Attitüden von Gaines Hull als Selbstbehauptung durch, aber nicht als Provokation. Gut gemeinte Abschwächungen bringen Klischees der 1980er Jahr aufs Tablett, aber nicht auf den Prüfstand. Die Korrektheit bleibt also ähnlich flach und niedrig wie das von den hinteren Sitzreihen schlecht einsehbare Spielpodest. Bezeichnend, dass niemand in den Dialogen lacht. Cusch Jung respektiert die Figuren. Das ist zwar sehr honorabel, aber damit zieht Cusch ihnen auch die Zähne und verzichtet überdies auf Effekte. Denn Molinas und Valentins Annäherung hat den aus dem Roman übernommenen Dialogen Witz-Potenzial, das durch den sprunghaften Wechsel von Gewalt, tödlicher Bedrohung, Hoffnung und zarten Blüten von Mitmenschlichkeit zum Pulverfass wird. Die Schlagstöcke sind offenbar Neuanschaffungen und man zeigt sich in deren Gebrauch als noch etwas ungeübt. Das Trio von Gefängnisaufseher (Cusch Jung) und Wärtern (Milko Milev, Radoslaw Rydlewski) suchte seine Inspirationsmomente möglicherweise bei „Raumschiff Surprise“.

Auf der sicheren Seite ist Christoph-Johannes Eichborn mit Kanders Musik. Er lässt die lateinamerikanische Rhythmen im verheißungsvoll Angedeuteten und vergrößert da, wo sich Anke Fiedler in der Star-Position mit herzerfrischender Spielfreude einbringt, Lockungen und Sehnsuchtspotenzial. Auch musikalisch steht „Kiss Of The Spider Woman“ dem berühmteren „Cabaret“, in dem Show und Handlung eine ähnlich symbolische Ergänzungsfunktion haben, mit nichts nach. Valentins und Molinas Solonummern kommen deshalb auch von Friedrich Rau und Gaines Hull äußerst eindrucksvoll. Meriten hat die Inszenierung gegen Ende. Wenn Molina und Valentin zu körperlicher Nähe finden, geschieht das mit unspektakulärer Ehrlichkeit. Da merkt man endlich den Unterschied zwischen 1993 und 2020: Das Licht bleibt an – kein Black Out und kein Raunen im Publikum, Nach „Lovemusik“ also doch ein wichtiger Beitrag im beachtlich ambitionierten Spielplan der MuKo!

Annotation

„Kuss der Spinnenfrau“, Musical von Terrence McNally nach dem Roman von Manuel Puig, Texte Fred Ebb, Musik John Kander an der Musikalischen Komödie Leipzig/Westbad. Musikalische Leitung: Christoph-Johannes Eichhorn – Inszenierung: Cusch Jung – Choreografie: Melissa King – Bühne: Frank Schmutzler – Kostüme: Aleksandra Kica – Choreinstudierung: Mathias Drechsler – Dramaturgie: Elisabeth Kühne – Chor, Ballett, Orchester Musikalische Komödie – Aurora / Spinnenfrau: Anke Fiedler – Molinas Mutter: Angela Mehling – Marta: Nora Lentner – Molina: Gaines Hall – Valentin: Friedrich Rau – Gefängnisaufseher: Cusch Jung – Gabriel, Kellner: Andreas Rainer – Esteban, Gefängniswärter: Milko Milev – • Marcos, Gefängniswärter: Radoslaw Rydlewski – AI, Beobachter / Gefangener: Peter Waelsch – Fuentes, Häftling:Tobias Latte – Aurelio, Dekorateur / Gefangener: Uwe Kronberg – Emilio, Häftling: Samuel Hoppe

Was noch?

Premiere am 01.02.2020, Westbad (= besuchte Vorstellung)

Weitere Vorstellungen am 02., 04., 07., 08., 09., 12., 14., 15., 16., 28. & 29.02. / 01.03. / 09. & 10.05. – Karten: + 49 (0)341 – 12 61 261 / Abendkasse Westbad ab eine Stunde vor Beginn: Fon + 49 (0)341 – 86 09 40 76 – Online – bekannte Vorverkaufsstellen

Credits:

Besuchter Vorstellung 2.2.2020; veröffentlicht 3.2.2020

Fotos: © Kirsten Nijhof

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