“Die Eisjungfrau” nach Andersen im Leipziger Schauspielhaus.
Andersens Märchennovelle wird in der Bühnenfassung von Stephan Beer auf der großen Bühne des Schauspielhauses zu einem unterhaltsamen Stück für die ganze Familie. „Die Eisjungfrau“ bringt so weit mehr freundliche Wärme in die kalte Jahreszeit als der kein gutes Ende nehmende Originaltext. Das Weihnachtmärchen 2019 ist eine prächtige Visitenkarte für die Spiellust von Enrico Lübbes Ensemble
von Roland H Dippel
Stephan Beer, der Jugendtheaterexperte am Leipziger Schauspielhaus, mag Walt Disney und die Schweiz weitaus lieber als den dänischen National- und Märchendichter Hans Christian Andersen. Mit dem Blick auf Wirksames entdeckte er am Theater Erfurt vor fast zwei Jahren bei seiner sehr subtilen und herzlichen Lesart von „Grimm!“ die Liebe zum Musical. Damals bewies er detektivischen und sensiblen Theatersinn, indem er Thomas Zaufkes und Peter Lunds Plädoyer für den gar nicht so bösen Wolf mit einer sehr differenzierten Sicht auf die drei kleinen Schweinchen, Rotkäppchen und dessen kiffende Großmutter verknüpfte. Auf einen derartigen Feinschliff und Scharfblick verzichtete er mit Georg Burger bei der dramatischen Einrichtung von Hans Christian Andersens Märchennovelle „Die Eisjungfrau“ im Schauspielhaus.
Ganz klar, dass im Spielwitz und dem Vertrauen des Ensembles zum Regisseur der Leipziger „Zauberland-Trilogie“ trotzdem nichts schiefgehen kann. Deshalb werden nur wenige die für Andersen typische Rutschpartie von fassadenhafter Harmlosigkeit in die Qual vermissen. Beers Erfolgsrezept: Holzschnittartige und märchenaffine Figuren, viel Tänzeln, flotte Songs, das aufgesetzte Happy-End – alles unter der Kuppel des perfekten Sound-Environments von Jan S. Beyer und Jörg Wockenfuß. Dieses garniert und glasiert perfekt: Das 100-Minuten-Stück bietet tolle Anlässe zu mit Schweizerisch gefärbtem Folk-Rock und manchmal auch härteren Drums. Dazu sieht man beim Drehen der Bühne Georg Burgers Spanplatten-Konstruktion der in Portalhöhe getriebenen Alpenmassive und Gletscher. Kristina Böchers pfundige Trachten-Kostüme lassen wie die ganze Produktion in Schwebe, ob der ironische Aufputz eine absichernde Legitimation für die krachlederne Lust am Musical ist. Sehr beachtlich auch, wie viele Wo-ein-Wille-da-ein-Weg- und Man-muss-alles-mal-ausprobieren-Sprüchen anstelle einer Reflexion des durchaus problematischen Andersen-Textes in den Dialogen Platz finden.
Aus Andersens Episodenfiguren werden bei Beer und Burger Sympathiefänger wie die taffe, vor den waghalsigsten Rettungsaktionen nicht zurückscheuende Katze (Julia Preuß) und der Kater Klodbert mit Wohlstandsplauze (Tobias Amoriello). Am Ende bekommt jeder Topf seinen Deckel: Nicole Widera als Schmuse-Expertin Annett einen Köbi (Paul Trembnau), die Fondue-Expertin Pascale (Annett Sawallisch) den Kapitalisten-Müller (Wenzel Banneyer) und vor allem, ganz gegen Andersens Plot, dessen Tochter Babette (Nina Wolf) den auf der gesellschaftlichen Leiter etliche Stufen unter ihr stehenden Waisenknaben und Alpin-Experten Rudi (Ron Helbig). Die vierdimensionale Theater-Laubsägearbeit gerät kurzweilig, kommt durch einige Nebensätzen auf Gendermainstream-korrektes Niveau und optimiert Andersens schillernd gebrochenes Ende zur heteronormativen Standardausführung: Rudi erhält Babette, die für bzw. mit ihm unter beträchtlichen Gefahren das vom Vater als Mutprobe geforderte Adlerei vom Berg holt und dabei fast das Leben verliert. Von den Brüchen in Andersens Text bleibt bei Beer vor allem der Riss zwischen Menschen und einer Natur, die mit sich nicht spaßen lässt. Also spendet die Eisjungfrau nur so lange aus ihren Ressourcen, wie das Kräftegewicht zwischen ihr und den Menschen in Takt bleibt.
Anna Keil trägt an der Stirn zwei fashionable Hörner. Sie ist eine gepanzerte Fee aus Silber, Eisen und rockigen Vokalisen, aus denen man die Sehnsucht der Macher nach einer richtig bösen Fee zu hören glaubt. Sie erhebt Ansprüche auf Rudi seit dem Unfalltod von dessen Mutter in einer Gletscherspalte (tolles stilisiertes Video in schwarzweiß: Kai Schadeberg). Sowie die Sphären wieder fein säuberlich getrennt und die Gefahren gebannt sind, geht es weiter mit Katzenparty und Fondue-Völlerei.
Beste Unterhaltung ist also garantiert mit einer Geradlinigkeit, die alle Doppelbödigkeiten Andersens fein säuberlich entsorgt. Denn im Märchen wird Rudi zum Opfer der Eisjungfrau und ertrinkt. Danach erlebt Babette als alternde Witwe, dass die isolierte Enge ihres Landstrichs mit Inbetriebnahme der Eisenbahn ein Ende hat, der Ressourcenverbrauch aber noch weiter hochschnellt. Im Schauspielhaus arrangiert sich Rudi, der sich im Märchen Rudi nie ganz vom Image des stigmatisierten Fremdlings zu befreien vermag, mit dem wuchernden Schwiegervater. Bei Andersen stammt Rudis Vater aus dem Norden, gehört in die andere Sphäre der Eisjungfrau und nicht in eine reguläre Gemeinschaft. All das bleibt in der Bühnenfassung von Beer und Burger auf der Strecke. Diese Adaption verbirgt hinter der Freude an treffsicheren Pointen und schnurrenden Wortwechseln äußerst geschickt, dass es in „Die Eisjungfrau“ fast ebenso spannende Abgründe gibt wie die von Philipp Stölzl in „Andersens Erzählungen“ vor kurzem auf die Bühne des Theaters Basel gesetzten Geheimnisse der „kleinen Meerjungfrau“. Am Ende triumphiert in Leipzig Freude am Spiel über Andersens gebrochenes Bild von der Schweiz und den Menschen. Lauter Jubel.
Annotation:
„Die Eisjungfrau“ von Hans Christian Andersen, für die Bühne bearbeitet von Stephan Beer und Georg Burger. Uraufführung am Schauspiel Leipzig. Regie: Stephan Beer, Bühne: Georg Burger, Kostüme: Kristina Böcher. Musik: Beyer / Wockenfuß, Choreographie: Sibylle Uttikal, Animation: Max Julian Otto, Dramaturgie: Georg Mellert, Licht: Jörn Langkabel. Besetzung: Anna Keil als Eisjungfrau, Wenzel Banneyer als Großvater / Müller, Julia Preuß als Nala, Katze, Hartmut Neuber als Onkel / Mann auf dem Volksfest, Annett Sawallisch als Tante, Ron Helbig als Rudi, Nina Wolf als Babette, Nicole Widera als Annett, Paul Trempnau als Köbi, Tobias Amoriello als Klodbert, Kater, Philipp Staschull als Ajola, Hund / Schwindel / Junger Mann auf dem Volksfest, Friedrich Steinlein als Ragli, Beyer / Wockenfuß als Live Musiker.
Was noch?
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Credits:
Besuchte Vorstellung: Uraufführung am 27.10.2019; veröffentlicht: 1.11.2019
Fotos: © Rolf Arnold