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Todesdämmrige Publikumsverjüngung

Todesdämmrige Publikumsverjüngung

David Bowies Musical “Lazarus” im Schauspiel Leipzig.

Letztlich ist es stimmig, wenn ein kompetenter klassischer Sänger mit guten Vorkenntnissen für Avantgarde- und Experimentierformen sich David Bowies kurz vor dessen Tod im Januar 2016 herausgekommenes Musical „Lazarus“  annimmt. Am Schauspiel Leipzig präsentierte Hubert Wild somit seine erste Regie mit einem rundum starken Ensemble, einem passenden Stage Set und einer weitaus milderen musikalischen Gangart, als sie Bowie in seinen besten Jahren angestimmt hätte. Großer Jubel.

von Roland H Dippel

Mit Wurzeln in der Romantik hat die pessimistische Musical-Fortsetzung von Nicholas Roegs Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976) kaum zu tun, mit nekrophilen Fetischen der Gothic-Szene noch weniger. In diesem spielte David Bowie 1976 den Außerirdischen Thomas Jerome Newton, der in einem Raumschiff Wasser zu seinem ausgedörrten Heimat-Planeten bringen will, aber durch die CIA  auf der Erde festgehalten wird. Ein Protagonist wie der 2016 seinem Krebsleiden erlegene David Bowie ist selbst der Gründer einer Wanderbewegung zwischen den materiellen und den übersinnlichen Welten der Popkultur.

Diese Fortsetzung, die dreißig Jahre nach der Filmhandlung in einer nachlässig gepflegten Nerd-Bude spielt, ist noch trister als deren filmische Ursprung: Der sich mit Bier und Fernsehen zudröhnende Thomas Jerome Newton ist umgeben von Lemuren aus seiner Vergangenheit und verliert die Fäden zum greifbaren Jetzt. Um ihn geistern echte und fiktive Wesen wie seine Assistentin Elly (Luise Schubert), das dem Tod von der Schippe gesprungene Mädchen (Anna Keil) und andere Figuren. Wohlige Irritation ist das Mittel, das den aktuellen Siegeszug von „Lazarus“ auf den deutschen Bühnen sogar noch beschleunigt: Hamburg, Bremen, Bielefeld, Nürnberg  – und jetzt Leipzig, wo sich eine den Altersdurchschnitt des Hauses kräftig verjüngende Erfolgsserie anbahnt.

In diesem Opus sind mehr sensitive als rational-logische Potenzen der Zuschauer gefragt. Susanne Münzner hat als Spielraum ein Stahlgerüst mit mehreren Ebenen und Treppen auf die gut genutzte Drehscheibe der Bühne gestellt, mit ausreichend Platz für die achtköpfige Band und Screens für spät-psychedelische Farbspielereien. Aber vor allem düstere. Auch das Country-Lametta, die wie von Andy Warhol aufgemöbelten Village-People-Outfits und Dagmar Elisabeth Mecas bunte Sakkos über niedrig gegürteten Hosen schaffen weniger Aufhellung als den Absturz Richtung Hell Angels. Vier neue Songs gibt es dazu von Bowie: „Lazarus“, „No Plan“, „Killing a Little Time“ und „When In Met You“ – alle weiteren sind ein Streifzug durch seinen musikalische Biographie und landen  im Finale bei hier samtweichen „Heroes“. Ein Fest für das gesamte Ensemble, das sich in dieser charismatischen Trauerode, bei der es vor allem um Verlust, das Nicht-Sterben-Können und Unsicherheiten mit der persönlichen Identität geht, von seiner besten Seite zeigen kann.

Röhren und gespitztes Rufen beherrscht die Szene um Newton alias Christopher Nell, der so endlich zu seinem Leipziger Debüt kommt. Luise Schubert, Thomas Baumgardt und Julia Zabolitzki machen sich Stilisierung und Künstlichkeit zur zweiten Natur. Die Befindlichkeiten und Beziehungen sind so labil und fragwürdig, dass nur der nächste Song oder das nächste Styling Halt versprechen und doch schnell wieder entgleiten.

Was auf der Bühne stattfindet, wirkt alles äußerst ungesund, amorph und haltlos. Es wird doppelbödig und mit der Attitüde des Unergründlichen gefeiert, was in von der heute durchweg optimierten Gesellschaft mit Body Watch, dem Ziel optimaler Work-Life-Balance und Online-Dating als verführerisch, anarchisch, riskant und unkalkulierbar gilt: Todessehnsucht, persönliche Irritation als psychische Dauereinrichtung, der sprunghafte Wechsel zwischen Anarchie und kleinem Glück. Theatrales Kraftfutter für das Ensemble.

Für Kontraste sorgt die Band, die sich nicht noch als weiteren Härtefaktor ins Spiel bringen möchte. Stephan König ist ein begnadeter Pianist und so kommen statt brachialer Drums und Gitarren-Beats die weicheren Komponenten von Bowies Songs zur Geltung. Das Ton-Team des Schauspiels Leipzig leistet Erstklassiges, Ohrenstöpsel braucht man hier nicht, denn die Pose rabiaten Radau und Rabatz-Schlagens hat man den Songs ausgewrungen.

Wahrscheinlich liegt es auch daran: Geschlechtliche Positionierung hat als Ausdrucksmittel von Individualität in den letzten Jahren offenbar an Kraft verloren.

„The Rocky Horror Show“ ist inzwischen längst zur Revueoperette der 68er geschrumpft. Für die Generation um die Vierzig gibt es momentan also kein Stück, das Kult-Status-Potenzial entwickelt, ein unverwechselbares dramatisches Flair hat und den Ausdruck von Mangelerscheinungen als Genussmittel zelebriert. David Bowies und Enda Walshs raues Todessehnsuchtsmusical hat für diese vakante Position nicht die schlechtesten Chancen.

 

Annotation:

Schauspiel Leipzig – Lazarus. David Bowie & Enda Walsh. Nach dem Roman „The Man Who Fell To Earth” von Walter Tevis. Deutsch von Peter Torberg – Christopher Nell (Thomas Jerome Newton), Tilo Krügel (Michael), Luise Schubert (Elly), Thomas Braungardt (Zach), Julia Zabolitzki (Japanerin / Maemi), Christine Fischer, Daniela Keckeis, Enis Turan (Teenage Girls), Anna Keil (Mädchen, später Marley), Dirk Lange (Valentine), Brian Völkner (Ben) / Stephan König (Klavier, Keyboard 1), Melchior Walther (Keyboard 2), Frank Nowicky (Saxophon), Matthias Büttner (Posaune), Lars Kutschke (E-Gitarre 1), Georg Spieß (E-Gitarre 2), Jacob Müller (Bassgitarre), Dominique Ehlert (Schlagzeug) als Live-Musiker – Musikalische Leitung: Stephan König, Regie: Hubert Wild, Bühne: Susanne Münzner, Kostüme: Dagmar Elizabeth Mecca, Video: Heta Multanen, Dramaturgie: Georg Mellert, Choreographie: Salome Schneebeli, Musikalische Einstudierung: Stephan König, Melchior Walther, Sprachcoaching Japanisch: Nao Sakata, Licht: Carsten Rüger – Besuchte Vorstellung: 26.06., 19:30 – Premiere: Sa 15.06. / Wieder am Do 04.07., 19:30 – Sa 14.09., 19:30 – So 15.09., 16:00 – Fr 04.10., 19:30 – Di 29.10., 19:30 – Sa 14.12., 19:30 – Di 31.12., 20:30 – Fr 24.01., 19:00 – Sa 15.02., 19:30 – Fr 20.03., 19:30 – Sa 11.04., 19:30 – Sa 23.05., 19:30 – So 14.06., 19:30 – Do 16.07., 19:30 – www.schauspiel-leipzig.de

Credits:

veröffentlicht 28.06.2019

Fotos: (c) Ralf Arnold

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