“Schneewittchen” an der Oper Leipzig als poetische Medien-Studie .
Bei der Pressekonferenz zur Spielzeit 2019/20 hatte Intendant Prof. Ulf Schirmer am 14. März das kräftige Erfolgswachstum der maßgeblich von Chefdramaturg Dr. Christian Geltinger aufgebauten vierten Sparte „Junge Oper“ erwähnt. Mit Recht: Opulente Produktionen wie Humperdincks „Dornröschen“, Jasmin Solfagharis Inszenierung von Nino Rotas „Aladin und die Wunderlampe“ und jetzt Marius Felix Langes „Schneewittchen“ gehören zu den Glanzpunkten im Repertoire der Oper Leipzig. Ein Besuch bei der ersten Vormittagsvorstellung nach der Premiere.
von Roland H Dippel
Marius Felix Lange (geb. 1968) hatte das Textbuch für seine 2011 an der Oper Köln uraufgeführte Oper „Schneewittchen“ nach den Brüdern Grimm selbst verfasst. Sinnig und doppelsinnig wechseln intelligente und gewitzte Verse mit der Musik eines in allen vokalen Genres erfahrenen Film-, Lied- und Opernkomponisten. Patrick Rohbeck griff diese Akzente aus der melodienreichen Partitur für seine Inszenierung auf.
Er bescherte damit ein zweistündiges und für alle Jahreszeiten passendes Märchen der Extraklasse. Bei der ersten Vormittagsvorstellung versuchten einige erwachsene Begleiter im leider nur halbvollen Opernhaus die bemerkenswert braven Interaktionen der jungen Zuschauer zu unterbrechen. Das muss nicht sein, denn dieses „Schneewittchen“ hielt die Kinder mit einer opulenten, auch dem strengen Blick von Märchenenthusiasten standhaltenden und opulenten, beglückenden, intelligenten Gesamtleistung in Spannung.
Die mittelgroße Besetzung des Gewandhausorchesters folgt unter Giedré Šlekyté den heiklen Wechseln zwischen Dialog und Gesang mit beeindruckender Präzision. Nicht nur sie, sondern auch Alexander J. Mudlagks Scherenschnitt-Projektionen und seine üppigen, das Geschehen dennoch nicht verkleisternden Kostümen machen vergessen, dass die Musik gerade aufgrund ihres punktgenauen Gestenreichtums im Mittelteil leicht zur Monotonie tendiert. Das ist allerdings genau dort, wo der dreimalige Attentatsversuch der bösen Königin auf das ein leicht anthroposophisch angehauchtes Zwergenhaus ausfegende Schneewittchen für Kinder an Spannung verliert. Dass sie sich dabei einmal als von Arbeitsplatzverlust (eingestürztes Bergwerk) geplagter achter Zwerg ausgibt, ist wohl eher ein Problem aus der Lebenswelt älterer Besucher. Mit feinem Humor geht es dem Märchen an unerwarteten Stellen immer wieder an’s Eingemachte.
Schlau garnierte Märchenwahrheiten
„Wirf dich nicht vorzeitig weg“ warnt einer der hier recht großen Zwerge, wenn der selbstverliebt-schlichte Prinz Schneewittchen (Sven Hjörleiffson) auf seinem etwas nachlässig gepflegten weißen Einhorn mitnehmen will und bei den Zwergen sofort Ängste vor Verlust der kostengünstigen Haushaltshilfe auslöst. Liebe ist hier also fast so gefährlich wie bei Wagner oder Puccini.
Tolle Wirkungen wie in einem großen Opernrausch für Erwachsene gibt es, wenn der Zauberspiegel schräg über der Hauptbühne hängt und das Spielgeschehen in den Zuschauerraum verdoppelt. Der Spiegelgeist ist gleichberechtigt neben den Bach-Evangelisten die neue Paraderolle von Martin Petzold, der Priesterdiadem und Rauschebart tragen darf.
Technische Zauberei und leichte Patina der Märchen-Ikonographie verbinden sich in dieser Produktion, der man vor allem für eines dankbar sein muss: Es gibt kein einziges visuelles und textliches Disney-Zitat, die man sonst viel zu oft als Synonym für kindgerechte Optik betrachtet. Dafür erfreut man sich an Bezügen und Assoziationen zu Märchenillustrationen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Doch im vormodernen Geschlechterrollenbild stecken trotzdem nur Magdalena Hinterdobler als größeres und Elin Karlström als kindliches Schneewittchen. Das liegt aber am Rollenzwang zur Naivität als Charakteristikum für verfolgte Prinzessinnen, nicht an der szenischen Realisierung.
Hochmoderner Zauberspiegel
Die Figur der Königin Clothilde ist ein gezielter Dolchstoß in die Eingeweide heutigen Optimierungswahns. Alt und hässlich ist sie (Sandra Janke) am Ende. Und sie wird am Schluss vom Spiegelgeist in die Arme genommen, als seien beide ein nach langen Konflikten doch noch einiges Paar, während Schneewittchen mitsamt Zwergen und Prinz in einer goldenen Kutsche den gewiss problemgefährdeten Ehehafen ansteuert. Diese Königin vertraut dem Mega-Medium Spiegel und vergisst den Dorian-Gray-Effekt (steiler Zahn im Spiegelbild contra Gebrauchsspuren in ‚real life‘). Clothilde setzt Prioritäten auf Schönheitsbad und Schönheitsschlaf statt auf Musizieren, Spielen, Lesen. Dieses Märchenbiest wird zum soziologischen Paradefall von dem, was die virtuellen neuen Zauberspiegel aus uns machen. Sandra Janke beginnt am byzantinischen Thron kapriziös wie Julia Roberts in der „wirklich wahren“ Schneewittchen-Story aus Hollywood und gewinnt dann ganz große eigene Persönlichkeitskontur. Toll, wie Patrick Rohbeck alle Schranken fallen lässt und mit jeder Untat immer mehr den Weibsteufel und Dämon aus ihr herausbrechen lässt. Das Lebkuchenherz vom Münchner Oktoberfest, mit dem der Jäger (Stephan Klemm) Königin Clothilde beschwichtigen will, ist für diese schlimmer als der siebte Höllenkreis.
Trotzdem: Das ganze Stück ist ein liebevolles, ironisches Geflecht aus Märchen, Gegenwartsnähe und Operntraum, weil es Kinder ernst nimmt, nicht kitschig wird und Musiktheater als hypnotisches Wunderwerk zelebriert.
Annotation:
Oper Leipzig – Marius Felix Lange: Schneewittchen. Kinderoper nach dem Märchen der Brüder Grimm. Für Kinder ab 6 Jahren – Premiere: 08. März 2019, 18:00; Besuchte Vorstellung: Fr 15. März 2019, 11:00; Veröffentlicht am 16. März 2019 – wieder am 08. & 09. Mai / 02. Juni 2019 – www.oper-leipzig.de;
Credits:
Foto: © Oper Leipzig/Tom Schulze