Luigi Cherubinis “L’Idalide” in Saalfeld wiederentdeckt.
„Es ist doch nur Cherubini, aber kein Mozart.“ sagt eine Dame in den vorderen Reihen während eines spontanen Szenenbeifalls zu ihrem Begleiter. Anreisenden imponiert es, dass der Theatersaal des Bürger- und Veranstaltungszentrums Meininger Hof in Saalfeld, in dem das Theater Rudolstadt und die Thüringer Symphoniker regelmäßig Musiktheater und Konzerte präsentieren, an einem Dienstag-Nachmittag so gut gefüllt ist. Bei der Wiederentdeckung von Luigi Cherubinis „L’Idalide“ handelt es sich um eine eigenständige Produktion des Theaters Rudolstadt, während sonst die Thüringer Symphoniker meist mit dem Musiktheater-Ensemble des Theaters Nordhausen auftreten. Ein beträchtlicher Erfolg auf mehreren Ebenen!
von Roland H Dippel
Die Anregung kam von Prof. Helen Geyer (Weimar-Jena), der Leiterin der quellenkritischen Edition der Opern Luigi Cherubinis (1760-1842) bei Simrock. Diese folgen den Manuskripten aus dem ursprünglichen Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin, zur Zeit aufbewahrt in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau. Nach der Erfurter Produktion von Cherubinis „Médée“ in der Spielzeit 2017/18 folgte nun mit einem jungen Ensemble die Aufführung von Luigi Cherubinis 1784 am Teatro della Pergola in Florenz uraufgeführter Oper „L’Idalide o sia La vergine del sole“ (Idalide oder Die Jungfrau der Sonne). Erstmals nach über 230 Jahren! Ein wichtiges Unterfangen, gerade weil die oft lückenhafte bis katastrophale Materialsituation bei Cherubini-Opern abschreckt und deshalb seine große Bedeutung für die Entwicklung des Musiktheaters von Mozart bis nach 1800 heute noch immer nicht im angemessenen Maße gewürdigt werden kann. „L’Idalide“, entstand nach dem Roman „Les Incas ou la destruction de l’empire du Pérou“ von François Marmontel und ist ein repräsentativer Mosaikstein für die Oper des späten 18. Jahrhunderts.
Aufklärerisches Operndrama für Florenz
„L’Idalide“ ist auch ein künstlerischer Beitrag zum Diskurs über die Todesstrafe und Kolonialismus – wie später „Lakmé“, „L’Africaine“, „Il Guarany“ und andere Opern. Aufführungen sind nur mit kreativen Interventionen möglich, weil ein Großteil der Rezitative und der letzte Teil der Partitur verloren gingen. Also enden die diplomatischen und moralischen Diskurse über „L’Idalide“ im Ungewissen, nachdem die Titelfigur in einem bewegenden Rezitativ vor ihrer Einmauerung Anschied nimmt. Der Grund für dieses Todesurteil: Die Priesterin in einem Inka-Sonnentempel bricht ihr Gelübde mit dem spanischen Eroberer Enrico. Damit gerät sie in das explosive Konfliktfeld zwischen Liebe und moralischer Verpflichtung.
Nur Cherubini? Ferdinando Moretti erweiterte Marmontels Roman, der nicht an Action-Momenten wie einem Vulkanausbruch spart, um den Dreieckkonflikt des Liebespaares und der Inka-Prinzessin Alciloe. Sein Libretto wurde mehrfach vertont und traf also offenbar den Nerv der Zeit. Selbst in der unvollständigen Fassung wird offenbar, was für eine spannende Musik Cherubini dazu komponierte hatte. Mozart war also nicht der einzige, der sich um eine dynamische, dramatische Gestaltung bemühte und Durchführungstechniken der ‚klassischen‘ Instrumentalmusik in die Oper übertrug. Cherubini hält 1784 jedoch noch am Primat der Einzelarie fest, lockerte die Nummernfolge allerdings kaum mit Ensembles oder dramatischen Wechselreden auf wie Mozart oder Gluck. Zudem fordert Cherubini drei Kastraten, für die Mozart in seinen späteren Opern kaum noch komponiert hatte. Chefdirigent Oliver Weder hat sich zu einer Besetzung ausschließlich mit Frauen entschlossen.
Sonnenstaat vor Moderatoren-Tribunal
Die Expression und das Pathos der späten Opera seria zieht der die reduzierten Möglichkeiten des Aufführungsortes und die Kondition des Publikums mitdenkende Regisseur Viktor Vysotzki in sein Konzept. Mit wenigen Sitzwürfeln, mit Projektionen von Inka-Pyramiden und Mikro versetzen er und Gretl Kautzsch die spätbarocke Haupt- und Staatsaktion in ein Fernsehstudio. Es läuft die Show „Schuld oder Schicksal“! Das Prinzip ist einfach: Der Schauspieler Jochen Ganser fragt sich als Moderator mit vertrautem Floskelvorrat durch – zwischen den Polen ölig und sensationslüstern gibt es kaum Schattierungen. Die Betroffenen lassen darauf ihren Arien-Affekten und später ihrem freudig erwarteten Exhibitionismus den willig freien Lauf. Aggressionen, Schuldgeständnisse und Selbstbezichtigungen perlen dahin, expressive Koloraturen sowieso.
Der Moderator heizt an und schon kommen die großen Gefühle und Unüberlegtheiten. Die bekannt markanten Sprüche machen den politischen Hintergrund recht einfach. Deutsche Dialoge wechseln mit Arien, die menschlicher Gefühlsmotorik offenbar mehr Respekt entgegenbringen als der aus dem flapsigen Medien-Deutsch freudvoll übernommene Mix der Standardfloskeln.
Tolles Ensemble
Ein Vergnügen ist das aber doch und verschafft zugleich Erkenntnisse zur musikalischen Dramaturgie der Mozart-Zeit: Im Programmheft werden die Konstellationen nach dem originalen Textbuch dargestellt, die man auf die aktualisierte Betrachtungsschablone anwenden kann. Der unvorbereitete Zuschauer hat dadurch Einblick in Textbuch-Strategien des späten 18. Jahrhunderts auf dem Umweg über heutige Show-Muster: Aus Ataliba, dem König des Inkareiches, wird die „Präsidentin des Sonnenstaates“. Durch die Kostüme von Tarnoverall bis Glitzer-Topp verschwimmen die Grenzen zwischen Videogame, Dokusoap, Polit- und Liebesdrama. Fertig ist die Melange. Eine Operndiva darf auch mal „Bitch!“ zischen, klar. Dieses Muster hat man schnell durchschaut und kann sich danach umso besser auf die Musik konzentrieren.
In der verräterisch offenen Akustik des Meininger Hofes tönen die Holzbläser geschliffen und die Streicher mit beeindruckend akkurater wie stilistischer Feinheit. Oliver Weder zeigt alle Vorzüge Cherubinis. Es spricht für die musikalische Gestaltung, dass diese Genauigkeit bis zum Schluss durchgehalten wird, selbst wenn das etwas zu Lasten der emotionalen Bewegtheit geschieht.
In den fünf Partien (eine Figur wurde gestrichen) gibt es keinen einzigen Ausfall. Nicht nur die drei Kastratenpartien Enrico (Lena Spohn), Idalides Vater Palmoro (Josefine Göhmann) und Ataliba (Martha Jordan) überzeugen in den riesigen Intervallsprüngen und Legato-Perioden, wie sie Mozart nur in zugespitzten Situationen fordert. Hier gehören sie jedoch zum vokalen Basisvokabular. Auch Idalide (Katharina Borsch) und noch mehr Alciloe (Daria Kalinina) glänzen in Partien, die mit extremen Registerwechseln gespickt sind. Man merkt, dass mit Gerd Amelung bei der musikalischen Einstudierung ein Kenner und Könner der historischen Aufführungspraxis am Werk war. Auf der musikalischen Seite ist diese Vorstellungsserie von „Alcide“ also eine beglückende Leistung, die von einem mitreißendem Engagement des gesamten Ensembles zeugt.
Das Fragmenthafte wird betont, wenn der Moderator am Ende den Abbruch der Handlung ohne Lösung ankündigt und anstelle der verschollenen Rezitative Dialoge auf der Höhe reißerischer Fernsehformate kommen. Doch bei den wenigen erhaltenen Rezitativen tut sich ein Klangkosmos auf fast wie in „Idomeneo“ oder „Così fan tutte“. Zum Schluss nochmals gefragt: Nur Cherubini? Keineswegs, „L’Idalide“ macht gewaltig Neugier auf weitere Erschließungen aus dessen Opernschaffen.
Annotation:
Saalfeld – Meininger Hof – Di 19.02.2019, 15:00 – weitere Vorstellungen: Fr 15.03./19:30 – Sa 16.03./19:30; veröffentlicht 20.02.2019
Was noch:
Lena Spohn wirkt in der Titelpartie der Ko-Poduktion „Giulio Cesare in
Egitto“ der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ am Theater Nordhausen mit. Premiere: 15. März 2019 – https://theater-nordhausen.de/stueck-informationen/julius-caesar.html
Credits
Fotos (3): © Theater Rudolstadt/by Lisa Stern