Thomaskantor Gottlob Harrer entdeckt vom Jungen Mitteldeutschen Barockensemble unter Andreas Mitschke
Bei diesen spannenden Entdeckungen gab es in der Thomaskirche am Abend des 5. Dezember beim Jungen Mitteldeutschen Barockensemble leider leere Reihen. Offenbar ist das Interesse an sächsischer Musikgeschichte im Advent neben Weihnachtsoratorium, „Nussknacker“, „Hänsel und Gretel“ nur gering. Schade, denn der Thomaskantor Gottlob Harrer (1703-1755) wollte als Komponist keineswegs im Schatten seines Amtsvorgängers Johann Sebastian Bachs bleiben.
von Roland H. Dippel
Der Vertreter des „heutigen brillanten Gusto der Music“ kam in Leipzig sehr gut an und hatte regen Kontakt zu den Veranstaltern der „Großen Concerte“ im Gasthaus Drey Schwanen am Brühl. Harrer brachte in die Messestadt das, was Bach anlässlich der Uraufführung von Hasses Oper „Cleofide“ mit bewunderndem Spott als „hübsche Liederchen“ bezeichnet hatte: Hier jedoch in opernhaften Handlungsoratorien ohne Evangelien-Texte, ohne Evangelist und dafür mit jeder Menge innerem Drama und sängerisch virtuosen Herzensergießungen. In der Karwoche 1753 erklangen im Großen Concert Harrers „Joas, König von Juda“ und in der Nikolaikirche sein „Der Tod Abels“. Doch nur fünf Jahre war der aus Görlitz stammende Gottlob Harrer in dieser Spitzenposition.
Nach einem Studium der Medizin an der Universität Leipzig wirkte er von 1733 bis 1750 mit Ausnahme einer dreijährigen Pause, die er zu einer Italien-Reise mit dem Hofkapellmeister Johann Adolf Hasse und dessen Frau, der Primadonna Faustina Bordoni, nutzte, als Mitglied der Dresdner Hofkapelle und Kapellmeister des Grafen Brühl. Kurz vor seinem Tod wurde er mit dem Titel eines ‚Königlichen Cammer-Compositeurs‘ geehrt. Viele von Harrers Werken, darunter ein kompletter Kantaten-Jahrgang, sind verschollen.
Das Junge Mitteldeutsche Barockensemble unter Andreas Mitschke stellte den Komponisten Harrer und sein musikalisches Umfeld mit einer intelligenten Werk-Auswahl vor. Zwischen fünf seiner Sinfonien reihte man kurze Sakralstücke Harrers in lateinischer und deutscher Sprache: Ein „Kyrie in c“, ein „Domine ad adjuvandum me festina“ („Herr, eile mir zu helfen“), ein „Sanctus in C“, ein Chorsatz „Mein Herz ist bereit“. Dazu das „Deutsche Magnificat F-Dur“ von Johann Ludwig Krebs, einem der Mitbewerber Harrers um das Amt des Thomaskantors, und das „Magnificat in C“ des Dresdner Kirchen-Komponisten Jan Dismas Zelenka, seines Lehrers.
Eine bunt schillernde Mischung evangelischer und katholischer Provenienz also. Die Kompositonen erklingen in bemerkenswert musikalischer Einheitlichkeit. Das Junge Mitteldeutsche Barockensemble zeigt großen Ernst und Konzentration, bei Zelenka sogar Scheu. Felicitas Wrede lässt in ihrem langen Sopran-Solo erkennen, dass in diesem Lobpreis ein Rest Skepsis am Wunder der Fleischwerdung des Heilands spürbar bleibt. Ihr Jubel ist mehr bescheiden als jauchzend. Fast ziert man sich etwas vor Zelenkas musikalischem Pomp und Gloria. Die selbstgewählte Aufgabe ist komplex in der historischen Erschließung und auch der daraus resultierenden musikalischen Haltung: Denn Harrer steht für die Synthese, nicht Antithese zwischen der Dresdner Hofmusik und der bürgerlich geprägten Musikkultur Leipzigs.
Seine Sinfonien umschmeicheln mit mannigfaltigen Wohlgefühlen. Die kurzen dreisätzigen Gebilde sind eine Werkgruppe des Übergangs: Bereits weitgehend emanzipiert vom Ursprungsmodell der italienischen Ouvertüren-Form, noch im Entwicklungsprozess zur autonomen Gattung. Einige Sätze wie das „Un poco grave“ der Sinfonie F-Dur von 1738 klaren auf zu liedhaften Perioden, in denen sich Rokoko und Empfindsamkeit ankündigen. Aus den vorgestellten Sakralwerken hört man, wie sich Harrer zu einer offeneren Gestaltung der Formen vortastet. Bei ihm führen die Vokalstimmen über einer mehr durchsichtigen Instrumentation.
Das Junge Mitteldeutsche Barockensemble lässt die Hörer an ihrer Suche nach dem angemessenen Stil teilhaben. In den Vokalwerken betont Dirigent Andreas Mitschke die homogene Geradlinigkeit und Deutlichkeit. Noch traut er sich nicht ganz an eine mitgestaltende Lesart, Respekt überwiegt. Die Streicherlinien der Sinfonien verschwimmen in der Akustik der Thomaskirche zu Streicheleinheiten, im Hauptschiff offenbar weitaus mehr als auf der Empore.
Die abenteuerliche Suche nach Harrer im Bermuda-Dreieck zwischen Bach, Zelenka und Zukunft findet im November 2019 mit einer durchdachten Programmdramaturgie auf vergleichbarer Höhe ihre Fortsetzung: Das freie Ensemble kombiniert die Kantate „Höchster, meine Sünden“ (BWV 1083), Bachs Bearbeitung von Pergolesis Stabat mater, mit zwei Sinfonien, einem Miserere und einer Missa Harrers. Das noch spannendere Vorhaben ist die geplante Wiederaufführung des in Nürtingen/Baden-Württemberg wiederentdeckten Oratoriums „Isacco, figura del redentore“ („Isaak, ein Vorbild des Erlösers“). Offenbar hatte Harrer selbst die Übersetzung „Abraham und Isaac oder Isaac im Vorbild“ für die 17 Stimmhefte und die Partitur angefertigt. Pietro Metastasios Libretto wurde nach Harrer auch von Johann Heinrich Rolle und Carl Ditters von Dittersdorf in deutscher Sprache vertont. Die Anregung zur Aufführung kommt aus dem Bach-Archiv, das „verschollen geglaubte Oratorium“ beschrieb Helmut Lauterwasser in einem Aufsatz für das Bach-Jahrbuch 2018 der Neuen Bach-Gesellschaft.
Annotation:
Besuchte Veranstaltung, Mittwoch, 5. Dezember 2018, 19:30 Leipzig, Thomaskirche, „Gottlob Harrer – eine Wiederentdeckung?! – Vokal- und Instrumentalwerke des Amtsnachfolgers von Johann Sebastian Bach“, Junges Mitteldeutsches Barockensemble – Leitung: Andreas Mitschke – Veranstalter: kulturnah. Christoph Jäger. Beitrag eingestellt: Sonnabend, 8.12.2018, 10.11 Uhr
Sonst noch…
Hörfunk-Tipp:
Deutschlandfunk Kultur überträgt am 18. Dezember um 20.03 Uhr eine Aufzeichnung von Händels „Der Messias“ mit dem Jungen Mitteldeutschen Barockensemble (Musikalische Leitung: Andreas Mitschke) vom 31. Oktober 2018 aus der Thomaskirche
Buch-Tipp:
Bach-Jahrbuch 2018, Im Auftrag der Neuen Bachgesellschaft herausgegeben von Peter Wollny; 104. Jahrgang – Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig, 2018 – ISBN: 978-3-374-05780-1 – 15,00 Euro
Bildquelle: © Christoph Jäger, kulturnah