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„Die Genossenschaft“ – ist der Gegenwart weit voraus
Podiumsdiskussion im Rahmen des 19. Delitzscher Gesprächs am 8.4. 2014

„Die Genossenschaft“ – ist der Gegenwart weit voraus

Die Genossenschaft ist kein Auslaufmodell, im Gegenteil, sie nimmt an Bedeutung zu. Warum? Genossenschaftliche Antworten gab es am Dienstag, dem 8. April 2014, im Bürgerhaus Delitzsch. Das 19. Delitzscher Gespräch der Deutschen Herrmann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft stand unter dem Motto „Genossenschaftliche Antworten auf regionale Herausforderungen im ländlichen Raum“. Rund 80 Teilnehmer aus der gesamten Bundesrepublik waren zugegen.

Von Petra Kießling

Vertreter bekannter Genossenschaften, wie die Raiffeisenbank, Volksbank, Bau- und Wohnungsbaugenossenschaften, Agrargenossenschaften sowie Vertreter sehr junger und zugleich außergewöhnlicher Unternehmen, wie die NOWEDA Familiengenossenschaft eG oder die Ärztegenossenschaft Octamed, waren gekommen.

Während seiner Begrüßungsansprache betonte der Gastgeber Dietmar Berger, Verbandspräsident a.D. und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft, die demokratische Chancengleichheit, welche die Rechtsform Genossenschaft bietet und akzentuierte die Stärke der nachweislich höheren Verlässlichkeit am Beispiel der Genossenschaftsbanken in der Finanz-Krise. Weiterhin sagte er, dass die Genossenschaften die mitgliederstärksten Gesellschaften in Deutschland sind. Aus einer Statistik aus dem Jahr 2013 des Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. geht hervor, dass es gegenwärtig 18,7 Millionen Genossenschaftsmitglieder gibt. Insgesamt rund 5.700 genossenschaftliche Unternehmen geben der gesamten Volkswirtschaft positive Wachstums- und Beschäftigungsimpulse. In den vergangenen drei Jahren, so Dietmar Berger, gab es etwa 700 genossenschaftliche Neugründungen in den Bereichen erneuerbare Energien, Dienstleistungen sowie Sozialgenossenschaften.

Prof. Markus Hainich vom Institut vom Genossenschaftswesen an der Humboldt-Universität Berlin informierte das Auditorium über die aktuelle wirtschaftliche und soziale Lage der ländlichen Regionen und stellte Tendenzen und Entwicklungen dar. Er betont, dass die gesetzliche Verankerung im Raumordnungsgesetz (ROG) zur Gleichstellung der Lebensverhältnisse zwischen den ländlichen und urbanen Lebensräumen allein nicht ausreichend ist, um Disparitäten zu verringern. Resümierend geht er darauf ein, dass in der fortschreitenden Schrumpfung der infrastrukturellen Angebote und der Bevölkerung in ländlichen Regionen Chancen und Gestaltungsaufgaben für Genossenschaften liegen. Außerdem sind Grundlagen gegeben, durch die Stärkung von Eigenverantwortung und Partizipation durch Genossenschaftsmodelle, die Ziel-Mittel-Diskrepanz der Fördermodelle Europas, des Bundes oder der Länder auszugleichen und damit beispielsweise die Abwanderung durch Dezentralisierung von Arbeitsplätzen zu verringern. Die eigene Energieversorgung, die Entwicklung der Selbstversorgung in landwirtschaftlichen Genossenschaften stellt einen nachhaltigen Kreislauf von Arbeit und Leben her. Dr. Johanna Scheringer-Wright, Sprecherin für Agrarpolitik und regionale Entwicklung der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag, geht in ihrem Redebeitrag, auf die global veränderten Einflüsse der Landwirtschaft ein. Die Massentierhaltung, unsinnige Transportwege auf Grund des wachsenden quantitativen Drucks auf die Landwirtschaft und führen zur Zentralisierung von Wirtschaftsstandorten und zur Zerschlagung gewachsener ländlicher Räume. Sie sieht in der Stärkung des regionalen Wirtschaftskreislaufes, neben den von Vorrednern bereits genannten Vorteilen, eine Chance für einen sozialökonomischen Umbau unserer Gesellschaft. Das Genossenschaftsmodell bietet hierfür die geeignete Unternehmensstruktur, z.B. die durch betriebliche Wirtschaftskreisläufe dezentrale bodengebundene Tierhaltung – die ebenso Landschaftspflege und Energieversorgung ermöglicht – Obst und Gemüseanbau einschließlich Weiterverarbeitung und der Versorgung vor Ort. Das fördert außerdem die Entwicklung von Tourismus, Gastronomie und einen attraktiven Lebensraum zur Ansiedlung von Menschen aus den Ballungszentren. Nach jedem Redebeitrag wurde dem Auditorium die Möglichkeit eingeräumt, Fragen an die oder den Vortragende/n zu stellen und, wie zu erwarten, kamen nach diesem Vortrag Wortmeldungen aus dem Publikum, die sich allerdings eher als polemisch erwiesen. Dass Agrargenossenschaften ein Erfolgskonzept für den ländlichen Raum darstellen, bestätigte Gunter Hommel, Geschäftsführer der Agrargenossenschaft Theuma Neuensalz eG im Vogtland. Er schildert am praktischen Beispiel, welche Ressourcen bei ihnen genutzt werden, die der Gemeinschaft am Ende zugute kommen. Neben der ökonomischen Stabilität und einem gemeinsam erwirtschafteten Ertrag, ist der Anteil des ökologischen Erfolgs wesentlich höher als es andere Unternehmen oder Konzerne je erreichen können. Die ländliche Region versorgt sich zu großen Teilen auf kurzen Wegen mit Lebensmitteln wie Fleisch, Obst und Gemüse, mit Strom durch eine Biogasanlage und nicht zuletzt entstehen Arbeitsplätze vor Ort.

Dr. med. Wolfram Oettler beschrieb die Entwicklung und die damit verbundenen Schwierigkeiten auf dem Weg zur Entstehung der Ärztegenossenschaft OCTAMED. Sein Vortrag widmete sich der fachärztlichen Betreuung außerhalb von Ballungsräumen und den möglichen Potentiale einer Ärztegenossenschaft im Vergleich zu traditionellen Versorgungsstrukturen. Hier kamen Fragen zur öffentlichen Wahrnehmung einer Ärztegenossenschaft aus der fachlich interessierten Zuhörerschaft. Dr. med. Wolfram Oettler sagte, dass der Patient, der zum Arzt geht, sich in der Regel nicht für die Hintergründe interessiert. Der Referent Andreas Kock, Personalleiter der NOWEDA Familiengenossenschaft eG, sprach über die Chance der sozialen Partizipation in Genossenschaften und hatte in diesem Zusammenhang die Auszubildenden der NOWEDA aus der Region gleich mitgebracht. Die Familiengenossenschaft NOWEDA berät und coacht Mitarbeiter in rund 8000 Apotheken bundesweit. Ihre Dienstleistungen drehen sich um Lösungen für die Bewältigung der Aufgaben im Beruf und in der Familie oder bieten fachliche Beratung für private oder berufliche Krisenbewältigung an. Dieses Rundumsorglospaket für die MitarbeiterInnen bewirkt die Verbesserung des Arbeitsklimas und vermindert ebenso das Risiko von Ausfallzeiten oder des Personalwechsel für den Apotheker.

Das Thema der Bekanntheit des genossenschaftlichen Wirtschaftsmodells wurde an diesem Tag immer wieder diskutiert. An Schulen und im Wirtschaftsunterricht spielt das Thema kaum eine Rolle. Das reflektieren die inzwischen allseits verbreiteten Schülerunternehmen. Landauf, landab sind es meistens AGs, GBRs, GmbHs oder Vereine, doch Genossenschaften sind weitgehend unbekannt. Deshalb wird es notwendiger denn je sein, dass die Rechtsform Genossenschaft und ihre Mitglieder mehr für sich selbst werben müssen, um das zu verändern. In der anschließenden Podiumsdiskussion brachte der Vorsitzender der Marketinginitiative der Wohnungsbaugenossenschaften Deutschland e.V., die einzig und allein für die Vermarktung von Wohnungsbaugenossenschaften gegründet wurde, die Vorteile der Publizitätssteigerung und der damit verbundenen Verbreitung des genossenschaftlichen Denkens und dessen demokratischen Wert zur Sprache. Die Äußerung von Stefan Weber, Vorsitzender des Vorstandes der Sächsischen Aufbaubank, dass die Genossenschaft kein Reparaturbetrieb zur Rettung der Infrastruktur im ländlichen Raum sei, brachte Schwung in die Diskussion. Unternehmen, die reine Kapitalinteressen verfolgen, stellen keine Beziehungen zum Menschen bzw. zu dessen Lebensraum her. Doch die Genossenschaft kann durch ihre transparente Rechtsform eine zukunftsfähige Alternative besonders für die ländliche Struktur sein. Außerdem besteht oft eine Divergenz zwischen den Interessen der ländlichen Bevölkerung und denen der politischen Elite, die oft zu sehr an bestehenden Strukturen festhalten. In seiner Abschlussrede resümiert der Oberbürgermeister der Gastgeberstadt Delitzsch, Dr. Manfred Wilde die Diskussions- und Redebeiträge. Er signalisierte, dass einerseits die Exekutive mehr Vertrauen und Verantwortung in die Wissenschaft und gleichermaßen in die Unternehmer und die Bürgerschaft abgeben sollte und andererseits sich von Legislaturperiodika und deren befristeten Denkschema verabschieden sollte. Auch sollte die Lasten- bzw. Kostenverteilung zwischen den großen urbanen Zentren und den ländlichen Kommunen und Gemeinden gerechter werden. Viele ländliche Räume in der Nähe von Großstädten profitieren von deren sozialen oder kulturellen Angeboten, beteiligen sich jedoch kaum an deren Finanzierung.

Außerdem unterstreicht er die Bedeutung der Initiative der Deutschen Herrmann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft, das Anliegen des Begründers der Genossenschaften und Sohn der Stadt Delitzsch als lebendiges immaterielles Kulturerbe zu erhalten und voranzutreiben.

Erstmalig in der Geschichte der Delitzscher Gespräche ist der Termin für das 20. Delitzscher Gespräch bereits festgelegt worden. Es wird am 17. April 2015 wieder im Bürgerhaus in Delitzsch stattfinden und sicher auf ein ebenso breites Interesse stoßen und zu einem fachlich anregenden Austausch kommt wie in diesem Jahr.

 

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